Gesa Ziemer berichtet aus dem City Science Lab in Hamburg.
Der folgende Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung vom Tagesspiegel Background und wurde dort am 15. Februar 2022 veröffentlicht.
Vor nicht langer Zeit traf ich eine Studentin, die gerade mit sehr guter Note ihren Master im Bauingenieurwesen abgeschlossen hatte. Ich fragte sie, welche digitalen Kompetenzen sie während ihres Studiums erlernt hätte, ob sie beispielsweise Building Information Modeling (BIM) könne oder sich mit Virtual Design and Construction auskenne. Sie antwortete, dass es solche Angebote in der Pflichtlehre zwar nicht gegeben, sie diese aber in Einführungskursen freiwillig besucht hätte. Meine eigenen Kinder haben in Zürich und Hamburg öffentliche Schulen besucht und dabei keinen einzigen Programmierkurs belegen können. Hätte ich ihnen nicht außerschulische Angebote wie Code Weeks oder Hacker Schools angeboten, hätten sie ihren Schulabschluss vollkommen ohne Einblick in die Informatik gemacht. Diese Erfahrungen mache nicht nur ich, sie sind in Deutschland allgegenwärtig.
In meinem Forschungsbereich, der interdisziplinären Stadtforschung mit Schwerpunkt Daten und Digitalisierung, ist es leider auch Alltag, dass wir Forschende mit
Qualifikationen an der Schnittstelle Stadtentwicklung und Informatik suchen und nur sehr wenige gute Bewerbungen bekommen. Und wenn wir divers besetzen wollen und beispielsweise Frauen einstellen
möchten, dann wird es immer schwieriger.
Natürlich kann man sagen, dass die Arbeitsbedingungen an deutschen Universitäten generell nicht wettbewerbsfähig sind, was stimmt. Vor allem im Bereich Ingenieurswesen und
Informatik sind die Bedingungen in der Industrie attraktiver als im öffentlichen Dienst: Unsere starke Währung ist die Vertiefung, die kritisch-konstruktive Reflexion und unsere
Kreativität. Aber auf allen Ebenen von Promotionsstellen, über Postdoc-Positionen hin zu Professuren ist die Bewerbungslage erschreckend dünn.
In der Regel bewerben sich Personen, die entweder Informatik oder Stadtentwicklung gelernt haben, aber nicht die dringend benötigten Kombinationen, die wir unter den Begriffen Urban
Analytics, Digital City Science oder Digital Humanities zusammenfassen. Und das hat damit zu tun, dass es erstens in Deutschland viel zu wenig BA- und MA-Studiengänge in diesen Bereichen
gibt und zweitens, dass Informatikkenntnisse nicht ausreichend in allen Lehrplänen von Stadtentwicklung, -forschung und dem Ingenieurswesen unterrichtet werden. Wo sind die
Architekt:innen, die programmieren können? Wo die Programmierer:innen, die auch kulturwissenschaftliche Analyse verstehen?
Heute braucht jede:r Informatik
Es ist egal, was man heute lernt: Informatikkenntnisse sind notwendig. Ein Krankenpfleger oder eine Psychologin brauchen diese genauso wie ein:e Architekt:in oder ein:e Stadtentwickler:in. Wer
einmal die Grundlagen einer Programmiersprache gelernt hat, versteht wie Zahlen zu Funktionen werden, wie eine Software aufgebaut ist, wie das Geoportal einer
Stadt funktioniert, wo Algorithmen unser Leben steuern und wie viele Trainingsdaten in Systemen Künstlicher Intelligenz benötigt werden, um etwas
vorauszusagen.
Dieses Wissen ist heute nicht nur für offensichtlich techniknahe Berufe wichtig, sondern auch in der Stadtentwicklung absolut zentral. Städte sind Big-Data-Produzent:innen, in
urbanen Datenplattformen laufen die Datenströme einer Stadt zusammen, jede Stadt möchte Smart City sein, Chief Digital Officers (CDO) sind in Städten heute
genauso wichtig wie die Bürgermeister:innen.
Dass Daten zukünftig einen größeren Einfluss auf Städte haben als die materiell gebaute Umwelt, betonten schon Forscher wie William J. Mitchell („City of Bits“) oder
Manuel Castells („informationelle Stadt“) seit den 1980er-Jahren. Die Erfindung des „Geographic Information Systems“ (GIS) brachte bereits in den 1960ern eine
entscheidende Veränderung für die Stadtplanung. Zum ersten Mal konnten räumliche Daten digital strukturiert verarbeitet werden, so dass dieses System bis heute
die Basis des Umgangs mit Geodaten von Städten und Regionen liefert.
Heute kombinieren wir solche Geodaten immer stärker mit anderen urbanen Daten, die beispielsweise Mobilität, Verhalten oder Umwelteinflüsse abbilden. Technisch Denken heißt nicht
nur programmieren, es heißt auch vernetzt, dezentral, kombinatorisch und transmedial zu denken und skalieren zu können. Szenarienbildung und Entscheidungsfindung geschieht in der Stadtentwicklung
vermehrt datenbasiert und transparent für viele einsehbar, was völlig neue Arbeitsweisen hervorbringt. Wie wollen wir zukünftig digital erfasste
Bürger:innenkommentare auswerten? Wie müsste eine Künstliche Intelligenz aussehen, die solche Daten verarbeitet?
Programmieren als zweite Fremdsprache
Wir sollten also darüber nachdenken, schon in Schulen als zweite Fremdsprache eine Programmiersprache einzuführen. Im Feld der Stadtentwicklung ist es enorm wichtig, dass
Programmierer:innen beim Coden darüber nachdenken, wofür sie coden und vice versa städtische Akteure genau formulieren können, welche Daten welche Fragen generieren oder welche Use Cases Sinn
ergeben könnten.
Auch müssen dringend gute soziale Prozesse und Interaktionen um digitale Anwendungen herum generiert werden, weshalb es – gerade wenn man agil mit Testgruppen aus der Verwaltung
arbeitet – wichtig ist die Governance einer Stadt zu verstehen. In unserem Feld heißt Innovation nicht unbedingt technische Neuheiten zu erfinden, sondern viel eher die
Technologien klug in gesellschaftlich verantwortliches Handeln zu integrieren.
Auch scheint mir gerade in diesem Bereich die strikte Trennung von angewandter und grundlagenorientier Forschung und Lehre nicht sehr sinnvoll. Geprägt durch meine Arbeit mit dem
MIT Media Lab in den USA bin ich überzeugt, dass vor allem in enger Verschränkung von Theorie und Praxis, furchtloser Experimentier- und Prototypingfreude, maximaler
Transkulturalität und einer freundlichen Hands-On-Mentalität interessante Forschung und Lehre entsteht, die von der Gesellschaft aufgenommen wird – auch in Form von
Start-up-Gründungen.
Auch Elemente aus dem Serious Gaming werden immer wichtiger, denn wir arbeiten nicht nur mit Karten, sondern vermehrt in virtuellen oder augmentierten Räumen,
wobei sich auch künstlerische Praxis sinnvoll einbeziehen lässt. Wo wird es in Zukunft
Schnittstellen zwischen der analogen Stadt und einem Mixed Reality Metaverse geben? Welche neuen Ökonomien ergeben sich?
Multidisziplinäre Herangehensweisen kann man unterstützen, wenn man interdisziplinäre Teams aufstellt. Noch besser wäre es aber, wenn es mehr Forschende gäbe, die an der
Schnittstelle zwischen Informatik und Stadtforschung ausgebildet wären. Städte werden größer, im globalen Süden sogar dramatisch größer, und damit auch die vielen Fragen und Anwendungsfälle, an
denen wir arbeiten. Dafür brauchen wir dringend mehr Studiengänge und Forschungsbereiche, die auch Datenkompetenz lehren.