Gesa Ziemer berichtet aus dem City Science Lab in Hamburg.
Der folgende Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung vom Tagesspiegel Background und wurde dort am 27. September 2022 veröffentlicht.
Städte produzierten schon immer viele Daten – der Unterschied ist, dass diese heute in digitalisierter Form vorliegen. Die Datenschätze von Städten zeigen
unterschiedliche Qualitäten. In der Regel haben wir gute Informationen über Themen wie Verkehr, Logistik, Flächen oder die Energiewirtschaft, aber andere Themen bleiben
unterrepräsentiert. Manche Fragen bleiben ungeklärt: Wie bewegen sich Menschen mit einer Behinderung durch die Stadt? Wie sehen Kinder ihre Stadt? Wie könnte einer geschlechtergerechte Stadt
aussehen? Solche „missing data“ zeigen Machtkonstellationen, in denen Datenerhebung und -verarbeitung ermöglicht oder eben auch verhindert wird.
Wer im Bereich Digitale Stadt arbeitet, ist also immer wieder mit dem Kuratieren von Daten, also mit der Auswahl, Selektion, Anordnung und Präsentation dieser beschäftigt. Welche
Daten werden zur Grundlage technologischer Anwendungen genommen? Wer benutzt die Daten wofür? Wie wurden diese kombiniert, um beispielsweise etwas über die Tauglichkeit einer Fläche auszusagen?
Um es gleich vorauszunehmen: Nach meiner Erfahrung ist es genauso wichtig transparent zu machen welche Daten fehlen wie zu zeigen welche vorhanden sind. Denn das schafft für alle
Beteiligten Vertrauen, weil man Potentiale, aber auch Defizite offen legt.
Das Kuratieren von Daten passiert nicht nur durch Maschinen, sondern auch durch Menschen, die an der Schnittstelle der Erfassung analoger Daten (zum Beispiel Bürger:innenkommentare) zu digitalen
(zum Beispiel Urban Data Hubs) arbeiten. Und es ist nicht nur wichtig für die Darstellung und Weiterverarbeitung derer, sondern hat auch eine tiefere Bedeutung. Der Techniksoziologe Roger
Häußling bringt es auf den Punkt, in dem er sagt, dass Daten durch Algorithmen ausgewertet werden, diese Ergebnisse dann aber auch wieder in soziale Wirklichkeiten einfliessen, die diese
dann wiederum prägen.
Wenn wir beispielsweise in sozialen Monitorings die Kinderarmut in Städten aufzeigen und feststellen, dass diese in bestimmten Stadtteilen über Jahrzehnte hinweg nicht abnimmt, dann müssen wir
erstens die Datenkuration genau befragen (was heisst Armut in genau diesem Kontext?) und zweitens auch vorsichtig sein mit der Veröffentlichung solcher Erkenntnisse. Denn solche
Ergebnisse können zu Stigmatisierung und weiterer Segregation der Stadtteile führen. Dazu kommt, dass solche Daten in Deutschland – richtigerweise – unter hohem Datenschutz
stehen und nur anonymisiert gezeigt werden dürfen, was in anderen Ländern aber nicht immer der Fall ist.
Lernen von der Kunst
Die Tätigkeit des Kuratierens stammt aus der Kunstszene, in der Kurator:innen klassischerweise Objekte anordnen und in einer Ausstellung zeigen, um dadurch eine Geschichte zu
erzählen, Zusammenhänge aufzuzeigen oder einen stimmigen Kontext zu erzeugen. Heute werden allerdings nicht mehr nur Objekte kuratiert, sondern auch Situationen oder
Interventionen, die oft im öffentlichen Raum stattfinden. Aber auch Alltagsphänomene wie Instagramkanäle oder Speisekarten werden kuratiert. Es hat eine Ausweitung des Kuratorischen in
unseren Alltag hinein stattgefunden, von der auch Informatiker:innen lernen können. Wobei diese Praxis für den städtischen Kontext nicht lediglich darin bestehen kann, große Datensätze effizient
zu normieren, sondern diese eher kreativ und transmedial neu zu versammeln, damit blinde Flecken aufgezeigt werden.
Im City Science Lab Hamburg haben wir beispielsweise im Projekt Fair Care, das zum Connected Urban Twin Projekt gehört, ein Data-Collection und Data-Storytelling-Tool entwickelt, mit dem wir Daten zum Thema ehrenamtliche Sorgearbeit mit Bürger:innen sammeln und diese dann gut visualisiert darstellen. Ein Projektpartner ist die Allianz Pflegende Angehörige (Allipa). Die Daten zeigen beispielsweise, dass Sorgearbeit überwiegend von Frauen zusätzlich zum normalen Beruf durchgeführt wird oder wo die Stadt für Rollstuhlfahrende nicht barrierefrei ist.
Solche Daten ergeben neue Mobilitätskarten und weisen auf konkrete Verbesserungsvorschläge hin. Informationen können auch als Audiofiles eingesprochen werden für den Fall, dass
Schreiben oder das Zeichnen von Karten nicht möglich ist. Wir setzen uns dafür ein, dass auch Datenexpert:innen ihr Augenmerk auf aktuelle Praktiken des Kuratierens legen und damit ihren Blick in
Richtung „missing data“ erweitern und diese transmedial, hier beispielsweise durch Audiofiles oder visuell dargestellte Geschichten, neu arrangieren. Künstlerisches Kuratieren
gibt Anregungen, damit wir kritisch über die Auswahl unserer Daten nachdenken und andere Perspektiven einnehmen können.
Neue Formen der Zusammenarbeit
Datenkurationen sind die Grundlage für neue Formen der Zusammenarbeit, denn ein Großteil unserer Arbeit besteht darin, dass wir die Daten aus den Silos, beispielsweise in Behörden, aber auch aus
in Unternehmen oder anderen Datenquellen befreien und neue Settings arrangieren, in denen Menschen datenbasiert interdisziplinär zusammenarbeiten können. Für
jeden Entwurf zukünftigen Zusammenlebens spielt das Kuratieren eine ebenso große Rolle wie das Interpretieren und Übersetzen von Daten, bei dem die Kunst helfen kann. Im Fall von FairCare kann
die Zivilgesellschaft nun mit der Sozial- und Verkehrsbehörde zusammenarbeiten, um Mobilitätsangebote anzupassen. Die neuen Daten zeigen wie eine gerechte Stadt aussehen kann, auf der Karte
vielleicht noch als Utopie, die aber Anstoß für echte Transformation sein sollte.
Zusammenarbeit wird im komplexen Gefüge der digitalen Stadt eine der zukünftigen Schlüsselkompetenzen sein, über die alle Beteiligten – von den politischen
Entscheider:innen und der Administration bis hin zu den Bürger:innen, aber auch Wissenschaftler:innen – verfügen müssen. Dies bedeutet aber auch, dass die Kunst der Übersetzung der zumeist
statistischen oder sozialräumlichen Daten in verständliche, zugängliche Formate eine große Aufgabe derartiger Projekte ist.